Hinter den Nebelwänden des Innovationstheaters

Hinweis: Dieser Beitrag ist eine Perspektive auf das Schwerpunktthema Innovationstheater vs. Strukturarbeit.

In Deutschland dauert es dem Vorurteil nach immer etwas länger, bis Trends so richtig ankommen. Und die deutsche Verwaltung ist ja schon sprichwörtlich nicht der Ort, der historisch für bahnbrechende Modernisierungsbereitschaft bekannt ist. Umso mehr lohnt es sich, die Frage zu stellen: Woher kommt die Besessenheit der letzten Jahre, mit immer neuen „Innovationslaboren“ Erneuerung oder gar „Sprunginnovationen“ quasi heraufbeschwören zu wollen – und wie viel davon ist eigentlich nur Theater? Und wer kümmert sich derweil eigentlich um die notwendige Basisinfrastruktur, ohne die all die „Innovationen“ gar nicht erst funktionieren können?

Erfinden heißt Schweißen. (Alfred T. Palmer, Combustion Engineering 1942. Gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Thomas Edison, Nikola Tesla, Tony Stark, Elon Musk (der gerne so tut als sei er Tony Stark) – die gesellschaftliche Vorstellung weltbewegender Erfindungen ist geprägt von einem fast schon romantischen Bild eines einzelnen Genies oder allenfalls eines kleinen Teams, das mit seinen Entwicklungen die Welt in ein „davor“ und ein „danach“ einteilt. Sie erfinden neue Technologien (Elektrisches Glühlicht! Wechselstrom!), die sofortige unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben – oder, im Falle der Film- und Fantasiegenies, wenigstens für die Top 1% (Waffensysteme! Raumschiffe, mit denen sie die sterbende Erde und uns verlassen möchten!)

Dieses Bild ist natürlich auf mehreren Ebenen falsch. Erstens sind es selten einzelne Menschen (und noch seltener nur Männer), die Dinge erfinden – die meiste Entwicklung geschieht in größeren Teams, und historisch wurden vielfach Dinge an mehreren Orten parallel erfunden. Viel wichtiger ist aber, dass die überwiegende Mehrzahl aller Erfindungen inkrementeller Natur ist: Verbesserungen bestehender Systeme, oder neuartige Kombinationen verschiedener, bereits existierender Technologien. Und es ist in Wirklichkeit gar nicht immer die gerade modernste Technologie, die den relevantesten Einfluss auf unser Leben hat.

American Progress (John Gast), Autry Museum of the American West, Public domain, via Wikimedia Commons

In „Most of the Time, Innovator’s Don’t Move Fast and Break Things“ beschreibt Sam Haselby beispielhaft die rückwirkende Verklärung der Einführung des Telegrafienetz in den USA. Im historisch verzerrten Rückblick wie im Gemälde „American Progress“ wurde der Kontinent quasi Hand in Hand von Eisenbahn, Wagentreks und Telegrafenleitungen kolonisiert. 

In Wirklichkeit war der breiten Bevölkerung die Teilhabe an Telegrafie lange Zeit viel zu teuer. Das wirkliche Massenkommunikationsmedium der USA zu Anfang des 20. Jahrhunderts war das günstige öffentliche Postsystem. Ein seit hunderten Jahren bewährtes System wurde als Daseinsvorsorge verstanden, und selbst in entlegensten Gegenden der Vereinigten Staaten konnten Menschen so Futter, Zaunmaterial oder ganze Häuser aus dem Versandkatalog bestellen und geliefert bekommen.

Assembly Required: Dieses „Aladdin“-Sears-Haus wurde per Post bestellt und die Einzelteile per Güterwaggon geliefert. There is no app for that. Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Unterhalt und Wartung: Viel wichtiger, vor allem für die öffentliche Hand

Nun ist es überhaupt kein Fehler, als Gesellschaft in Forschung und Entwicklung zu investieren, die eines Tages die ganz große nächste Erfindung hervorbringen könnte. Gerade weil große Erfindungen auf den Schultern von Riesen stehen und nie für sich allein, bedarf es dieser Forschung – nur so konnte das iPhone entstehen, nur so wird es die kommenden bahnbrechenden Entwicklungen der Zukunft geben, bis irgendwann einmal vielleicht zum Lebensmittelreplikator.

Währenddessen sollten wir uns aber die Frage stellen, wer sich derweil mit aller Kraft für die breite Umsetzung der ganz banal wirkenden bereits erfundenen Dinge einsetzt, die das Leben der breiten Bevölkerung besser macht. Wer kümmert sich um das Gegenstück des Postsystems, bezahlbar für alle, auch wenn gerade schon die metaphorischen Telegraphendrähte gespannt werden? 

In den USA beklagten deswegen bereits Mitte der 2000er Jahre verschiedene Stimmen den Fokus auf Innovation als Selbstzweck oder als inhaltsarme Worthülse. Innovation ist kein Selbstzweck, sondern nur der erste Schritt in einem Prozess, der irgendwann zu breiter Verfügbarkeit führen muss. Und dafür bedarf es der dafür notwendigen Infrastruktur. Wie gesagt, in Deutschland kommen Trends etwas später an.

Die magischen Garagen

Gerade die öffentliche Hand und ihr zuarbeitende Dienstleister konzentrieren sich derweil vielfach auf die Performance von Innovation. Weil Hewlett-Packard in einer Garage gegründet wurde und damit der Grundstein für das Silicon Valley gelegt wurde, kamen manche deutsche Technologieförderzentren auf die Idee, Garagen für die Startup-Förderung aufzustellen. „Innovationslabore“ spielen die Kulissen erfolgreicher Startups nach, als seien rohe Backsteinwände, Kühlschränke voller Trendcolas und der obligatorische Tischkicker hinreichende Voraussetzung für gute Ideen und deren erfolgreiche Umsetzung.

Weil der Gründungsmythos des Silicon Valley in der HP-Garage liegt, brauchen wir auch Garagen. Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Viel schlimmer ist derweil, dass in vielen verwaltungsnahen „Innovationslaboren“ nur die Methoden in der Vergangenheit bereits erfolgreicher Einheiten wie 18F und GDS nachgespielt werden. Die bereits reichhaltig vorhandenen Erfahrungen zu den für erfolgreiche Projekte notwendigen Rahmenbedingungen scheinen derweil unnötigerweise ignoriert zu werden. Dem Handbuch „Better for Less“ merkt man sein Alter von 10 Jahren langsam an – viele der Ansätze darin sind jedoch bis heute in Deutschland nicht umgesetzt, und immer wieder erfahre ich, dass es selbst selbsternannten Vorreitern bei der Digitalisierung des Bundes noch nicht bekannt war. Alles scheint innovativ, wenn man die Vergangenheit einfach ignoriert.

Infrastruktur, Infrastruktur, Infrastruktur

Der Fokus auf Technologien, die teilweise seit vielen Jahren stets „in ein bis zwei Jahren“ kommen soll, ist vielleicht auch eine Art Eskapismus. „20 Minutes into the Future“ nennt das die Film-Klischee-Datenbank tvTropes: Aus dem Jetzt heraus wird die erwartete Zukunft linear fortgeschrieben. Und zwar nicht gleich zig oder hunderte Jahre im Voraus bis zu Star Trek und Replikatoren, sondern eben wie man sich das gerade so für in ein paar Jahren vorstellen kann.

Open Knowledge Foundation Deutschland from Deutschland, Jugend hackt Ulm 2018 (46355378692), CC BY 2.0

Diese Extrapolation liegt meist weit daneben – 2001 konnten wir anders als im Kubrick-Film weder Mondtouristik betreiben, noch gab es Videotelefonzellen des 1968 noch allgegenwärtigen Bell-Telefonsystems. „We predicted cell phones, but not women in the workplace“ titelt das Nautilus-Magazin süffisant, und während Amazon in New York City mit drohnenbasierter Lieferung am selben Tag experimentiert, sei das Werkzeug der derzeitigen Same-Day-Delivery-Kuriere die Killertechnologie des 19. Jahrhunderts: Das Fahrrad.

Egal wie die baldige Zukunft aber aussieht: Solange sich die offiziellen Innovationsschmieden auf Technologien konzentrieren, die stets auf Armeslänge Abstand zur Umsetzung sind, kommen sie auch nie in die Verlegenheit, sie breit ausrollen zu müssen. Anstatt je in eine stabile Umsetzungsphase zu kommen, verbleibt alles stets in der Hype- und Wonder-Phase über die beeindruckend wirkende Zukunftstechnologie. Und das ist eine willkommene Ablenkung vom fundamentalen Umsetzungsproblem in Deutschland: Die marode oder gar nicht erst vorhandene dafür notwendige Infrastruktur, sowie die Auftraggeber- und Umsetzungskompetenzen der öffentlichen Hand.

Heimliche HeldInnen

Tatsächlich zeigt sich in der Umsetzungskompetenz eine tiefe Kluft zwischen den VordenkerInnen aus der Zivilgesellschaft, und der Vollzugfähigkeit der öffentlichen Hand. Warum war kleineanfragen.de als ehrenamtliches Ein-Personen-Projekt Zeit seines Bestehens besser als jedes Parlamentsinformationssystem der Länder und des Bundes? Warum ist ozg.verdrusssache.de ebenfalls als ehrenamtliches Ein-Personen-Projekt die derzeit beste Übersicht über die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes? Warum mussten die vielfältigen Sicherheitsprobleme der Luca-App über Wochen hin von einzelnen AktivistInnen und JournalistInnen aufgedeckt und dokumentiert werden? Warum kann dies alles die öffentliche Hand nicht selber?

IBM Computer – Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Ich behaupte, dass eben dieser Fokus auf vermeintliche Zukunftstechnologien bei gleichzeitigem Ignorieren der real existierenden Infrastrukturdefizite Schuld daran haben. Wenn eine Stadt ein neues Stadtquartier entwickelt, haben ihre PlanerInnen bereits im Vorfeld eine Idee, wie dieses Quartier später aussehen soll: Wo laufen Strom, Glasfaser, Zu- und Abwasser, wie sehen die Verkehrsachsen aus. Im IT-Umfeld vergibt die öffentliche Hand diese Planungen regelmäßig an Externe. Sie hat anschließend nicht die notwendigen internen Kompetenzen, um deren Ergebnisse auf Sinnhaftigkeit zu prüfen. Mit dem Ergebnis, dass die metaphorische Bebauung kein stimmiges Gesamtbild gibt, sondern einzelne Leuchttürme entstehen, ohne Rücksicht auf die Kompatibilität mit der Abwasserverrohrung.

Die öffentliche Hand hat ihre digitale Infrastruktur über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zunehmend verfallen lassen. Schulinfrastrukturen laufen vielerorts nur noch durch Selbstaufopferung einzelner LehrerInnen, oder durch die Unterstützung privater Initiativen wie dem CCC-nahen Infrarun. Anstatt die notwendige Basis zu erhalten und auszubauen, die Zukunftsvisionen überhaupt erst tragen können, fließen Fokus und Ressourcen in buzzwortgetriebene Scheinleuchttürme oder inhaltarme Performances von Innovationstheatertruppen. Und selbst aus dem Warnschuss zu Beginn der Covid-Krise scheint kaum jemand spürbare Konsequenzen gezogen zu haben.

Der Fisch stinkt hier vom Kopf her. Solange es politisch opportun ist, auf Show und Performance zu setzen, anstatt die notwendige Infrastruktur zu schaffen, wird das Theater – nicht zuletzt dank sich willig anbietender Theatertruppen – auch so weitergehen. Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass jeder nicht in den Abbau der Defizite investierte Euro keine Einsparung ist, sondern ein nicht getilgter, hochverzinster Kredit.


Titelbild: Production photographs for Room on The Broom,KW & NB Ltd, October 2014 von The Lowry (CC BY NC SA 2.0)