Blogbeitrag zum Workshop „Bürger:innen im Mittelpunkt – Nutzer:innenzentrierung im Gesetzgebungsprozess und bei der digitalen Umsetzung von Gesetzen“
Effiziente Verwaltungslösungen verlangen ganzheitliche digitale Prozesse. Diese müssen nach den Bedürfnissen der Bürger:innen und der Verwaltung gestaltet sein. Wer also nutzer:innenzentrierte Gesetze will, der muss zuerst die Bedürfnisse aller vom Gesetz Betroffenen kennen.
„Wart Ihr schon mal in einem Kernspintomographen?“ Mit dieser Frage hatten wohl die wenigsten Teilnehmer:innen bei einem Workshop über nutzer:innenzentrierte Gesetze gerechnet. Die Referent:innen Kathleen Jennrich vom Bundesministerium der Finanzen (BMF), Yannik Vogel und Anika Wiest aus dem Sekretariat des Nationalen Normenkontrollrats (NKRS), Katharina Berndt vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) und Jakob Häußermann (DigitalService) starteten den Workshop mit einer kleinen anschaulichen Anekdote.
Ein Piratenschiff als Kernspintomograph
Doug Dietz arbeitet als Industriedesigner in den Vereinigten Staaten. Seine Aufgabe ist es, Industriegeräte zu gestalten, wie z. B. Kernspintomographen. Nachdem Dietz einmal einen solchen Kernspintomographen gestaltet hatte, mit dem das Krankenhauspersonal bei der Bildgebung und der Funktionsweise mehr als zufrieden war, machte er eines Tages eine Beobachtung: Ein kleines Mädchen hatte solche panische Angst vor einer Untersuchung in einem Kernspintomographen, dass es bitterlich weinte.
Dietz nahm diese Erfahrung zum Anlass und erforschte die Bedürfnisse der Kinder. Seine Forschungsergebnisse ließ Dietz in die nutzer:innenfreundliche, kindgerechte Gestaltung der Kernspintomographen einfließen. Das Ergebnis: Dietz hat die „Adventures Serie“ für Kernspintomographen entwickelt. Sein bekanntester Prototyp ist ein Kernspintomograph für Kinder, der wie ein Piratenschiff gestaltet ist und dadurch den kleinen Patient:innen die Angst vor der Untersuchung nimmt.
Nutzer:innenzentrierung am Beispiel der antragslosen Steuererklärung
Die Lehre aus dem Konzept der Nutzer:innenzentrierung, wie Doug Dietz es angewendet hat: Man lernt von den Menschen, für die man etwas gestalten möchte. Doch dies ist leichter gesagt als getan, darin waren sich die Teilnehmer:innen des Workshops einig. Denn um etwas nutzer:innenzentriert zu gestalten, muss man zunächst die Meinungen und vor allem die Bedürfnisse der Zielgruppe erfassen.
Ein Beispiel mit vergleichbarer Problematik, von dem wesentlich mehr Menschen betroffen sind, hatten die Referent:innen mitgebracht: die antragslose Steuererklärung. Die Idee hinter der antragslosen Steuererklärung ist, einen Prozess zu entwickeln, der Bürger:innen ermöglicht, ihren Steuerbescheid zukünftig automatisch zu erhalten, ohne zuvor eine Steuererklärung einreichen zu müssen. Dies soll insbesondere jene Bürger:innen entlasten, deren Steuererklärung sich von Jahr zu Jahr kaum oder gar nicht verändert.
Am Beispiel von verschiedenen Personas wurde im Plenum diskutiert, welche Möglichkeiten es gibt, die Meinungen und Bedürfnisse der Zielgruppen zu erfassen. Dabei wurden in zwei Runden zunächst Ideen für die Zielgruppe der Bürger:innen gesammelt und anschließend für die Zielgruppe der Legist:innen bzw. der Verwaltungsmitarbeiter:innen.
Zielgruppen und ihre jeweiligen Bedürfnisse
Kernfragen, die in diesem Kontext beantwortet wurden, waren u. a.:
- Wie binden wir die Zielgruppen in den Gesetzgebungsprozess ein?
- Welche Bedürfnisse haben die jeweiligen Zielgruppen?
- Wie befähigen wir die Zielgruppen, ihre Bedürfnisse in den Gesetzgebungsprozess einzubringen?
- Woher wissen wir, ob wir mit den richtigen Akteuren der jeweiligen Zielgruppe sprechen?
Während der angeregten Diskussion tauschten die Teilnehmer:innen ihre Expertise sowie ihre Erfahrungen aus. Die Ergebnisse wurden dann in die Entwicklung von Ideen in den Bereichen der Bürger:innenbeteiligung und der Prozessanpassungen bei der Vorbereitung von Gesetzen überführt.
Doch was ist zu tun, wenn Idee auf Wirklichkeit trifft? Im letzten Schritt machten sich die Teilnehmer:innen des Workshops daran, die eigenen Ansätze in den gesamten Gesetzgebungsprozess zu integrieren. Neben kontinuierlichem Feedback der Betroffenen an die Parlamentarier:innen zur Zielgenauigkeit und praktischen Umsetzung des Gesetzes zeigte sich, dass schon mit Beginn des Gesetzgebungsprozesses die Bedürfnisse aller Zielgruppen umfangreich einbezogen werden müssen.
Drei Erkenntnisse über Nutzer:innenzentrierung in der Gesetzgebung
Die abschließende Diskussion lieferte drei zentrale Erkenntnisse:
- Nutzung verschiedener Beteiligungsformate: Für nutzer:innenzentrierte Gesetze braucht es mehr Formate zur Bürger:innenbeteiligung, die zu verschiedenen Aspekten und Zeitpunkten im Zuge der Vorbereitung von Gesetzen stattfinden. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass die Formate an die spezifische Zielgruppe angepasst werden (hier sei beispielsweise an Kranke oder an Personen mit sprachlichen Beeinträchtigungen gedacht).
- Festlegung von Richtlinien: Es sollte klare Richtlinien für die Bürger:innenbeteiligung geben, die einen transparenten Beteiligungsprozess während der Gesetzesvorbereitung gewährleisten und ggf. auch zu einer Nutzung der Ergebnisse durch den Gesetzgeber führen.
- Befähigung von Legist:innen: Legist:innen müssen stärker dazu befähigt werden, die identifizierten Bedürfnisse aller Beteiligten in den zu entwickelnden Gesetzestext einfließen zu lassen. Dazu gehören z. B. Schulungen oder Anpassungen der Gesetzesvorbereitungsprozesse in Zeitplanung und Beteiligung weiterer Expert:innen.
Fazit des Workshops
Am Ende eines spannenden Workshops war die Geschichte von Doug Dietz in aller Munde und das Bild eines Piratenschiff-Kernspintomographen in den Köpfen der Teilnehmer:innen fest verankert. Das Beispiel zeigt, dass die Bedürfnisse der Betroffenen und Nutzenden manchmal ganz andere sind, als allgemein hin erwartet. Es lohnt sich genau hinzuschauen – auch und gerade – bei der Vorbereitung neuer Gesetze. Neue Gesetze sollen das Leben der Menschen einfacher machen, damit es sich in Deutschland gut leben und arbeiten lässt. Wege dahin können Experimentierklauseln für Reallabore sein, in denen Innovationen unter realen Bedingungen gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt werden, oder eine aktive Bürger:innen- und Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir als Legist:innen brauchen nur den Mut, von den vorhandenen Instrumenten Gebrauch zu machen.